von Uli Kusterer

Vanessa hatte nie verstehen können, was Sinatra so an einer “Stadt die niemals schläft” gefallen hatte. Dieses klitzekleine, nutzlose Gedankenfragment schoss ihr durch den Kopf, als sie in der Morgendämmerung den verwinkelten Aufgang von der neuen Schlossstrasse zum Vorplatz des Schlosshofes hinaufstieg. Im Schutz der glatten Steinwand zu ihrer Linken, die die Terrasse mit dem Elisabethentor stützte, ging sie den sich schlängelnden, gepflasterten Fussweg entlang, dessen leicht ansteigende Führung nur hie und da von zwei oder drei abgesetzten Sandsteinstufen unterbrochen wurde. Überall um sie herum zwitscherten unerhört laut Vögel, sei es im Gebüsch, sei es auf den Bäumen zu den Seiten des Weges, oder irgendwo hinter den kleinen noch schlafenden Häuschen die der steilen Mauer vorgelagert waren. Immer wieder hielt Vanessa an, suchend um sich blickend nach der Ursache irgendeines Geräusches, doch meist fand sie nichts ausser der befremdlich leuchtenden, obwohl schwarz und gestaltlos anmutenden Wolkendecke über sich.

Als sie am oberen Ende des kurzen Treppenabschnitts angelangt war, der den Aufgang zum Vorhof abschloss, fand sie sich einem kleinen Andenkenladen gegenüber, der sich in freundlichen Lettern einer Siebzigerjahreschrift anpries. Die heruntergelassenen hölzernen Rolläden vor seiner Türe wiesen in ihrer Maserung auf eine ähnliche Ursprungszeit hin. gedankenverloren blickte Vanessa auf den kopfsteingepflasterten Platz, von dem eine breitere Strasse rechts in Richtung Bergbahn abging, sowie eine hinabführende in die Stadt, die genauso wie der kleine Weg, der zu ihrer linken den Königsstuhl hinaufführte, nur für Fussgänger zugänglich war. Vanessa musste nicht überlegen; obwohl sie sich dessen nicht bewusst gewesen war, hatte sie von Anfang an nur ein Ziel gehabt: den fünften Weg, der links von ihr durch das schmiedeeiserne Tor des Schlossparks führte, durch einen Sandsteinenen Torbogen. Ohne davon auch nur Notiz zu nehmen, bog sie an dem Barometer das ein findiger Uhrmacher an einer Mauer montiert hatte erneut links ab und schlenderte parallel zur Ballustrade auf die Schlossruinen zu.

Unten sah sie den Weg, den sie gekommen war, wie er sich unwirklich beleuchtet durch die blauschwarzen Büsche schlängelte, die feuchten Pflastersteine glänzten leicht. Wie ein clairobscure Gemälde, vereinzelte Lichtquellen, die das dunkle schattige Papier durchbrechen, und dort hinten die grosse beleuchtete Einfahrt eines Hauses im Stil der Sechziger, als rechteckiger, hell beleuchteter Tunnel vor den noch dunklen Häusern der Altstadt. Hinter dem Mauerfragment rechts von ihr, an dem eine steinerne Schrifttafel angebracht war, krächzte auf einmal laut etwas. Eine Krähe sauste einen guten Meter über ihrem Kopf vorbei, wie ein Schicksalsbote noch einige male schreiend. Vanessa liess den abgebrochenen Turm, zu dem ein kaum hüfthohes Eisentürchen den Zugang versperren sollte und die an ihn angrenzende, leicht hervorstehende kleinere Terrasse hinter sich und gelangte so ans Ende dieser grösseren. Ein kleines Mäuerchen das kniehoch einem Wiesenstreifen vorgelagert war, trennte sie noch von den Mauern der Ruine. Zwischen dem Weg, den sie gekommen war und der Ruine blickte sie nun auf die schlafende Stadt hinab. Genau das war sie: schlafend, ruhig, unbewusst ihrer Anwesenheit. Nur der schein einzelner Strassenlaternen und in einzelnen Häusern einzeln erleuchtete Fenstervierecke deutete auf die Existenz weiterer Menschen hin, und dennoch wirkte die Altstadt leer, ruhig. Unbedrohlich.

Vanessa liess ihren Blick langsam weiter nach hinten gleiten, in die Entfernung, über die Hausdächer hinweg, die unzähligen Türme die seit Jahr und Tag den alten Teil Heidelbergs spickten, ein homogenes Ganzes, das selbst durch den hoch aufragenden gothischen Chrysosthomusturm weit hinten nicht durchbrochen wurde. Am Horizont zeichnete sich Mannheim ab, mit seinen Fabriken gerade so in der Dunkelheit auszumachen, wenn man so gute Augen wie sie hatte. Vanessa wandte sich nach rechts parallel zu der nahen Ruinenwand entlang des kleinen Mäuerchens und schritt auf das andere Ende der Terrasse zu, das unmittelbar vor dem Graben lag. Nun beschleunigte sie ihren Schritt etwas, ging rechts entlang des Geländers auf das Elisabethentor zu und nachdem sie sich noch einmal gadenkenverloren zu den Figuren des Sandsteintores und der in regelmässigen Abständen mit Bäumen bepflanzten Wiese im Zentrum der Terrasse umgewandt hatte, setzte sie ihren Weg links, tiefer in den Park hinein fort.

Bald bog sie wieder links ab, in Richtung Schlosshof durch ein Tor in der Mitte eines Hauses. Eine Steinerne Brücke - ein gepflasterter Weg von der Breite eines Wagens - die durch das Haus und einen Turm führte, brachte sie über den Graben in den Schlosshof. Sie liess den Ottheinrichsbau und das grosse Fass hinter sich und fand wie von Geisterhand gelenkt durch einen niedrigen Durchgang den Weg auf die Terrasse des Schlosshofes, auf dem sich in einer Bodenplatte eine Einkerbung findet, die der Sage nach auf den Schuh eines Ritters zurückzuführen sei, der ein Burgfräulein durch einen gewagten Sprung aus dem Fenster vor den Flammen des brennenden angrenzenden Hauses gerettet haben soll. Vanessa schmunzelte. Die Kerbe, in die seit Jahrzehnten jeder Besucher seinen Fuss setzte, war nicht echt. Vor mindestens zwei Jahrhunderten war der Burghof renoviert worden, und aus dieser Zeit stammte wohl auch diese Kerbe. An den beiden vorderen Ecken der Terrasse fanden sich zwei kleine Erkerhäuschen, kleine Türmchen mit Fenstern, aus denen man ein wenig besser auf die Stadt sehen konnte. Nach einem Blick auf die Neckarschleuse und den Hackteufel setzte sich Vanessa auf den Sims des Hauses auf der Mannheimer Seite. Sie versuchte, am Berghang in der Klinge das Haus auszumachen, in dem ein alter Freund von ihr zu seinen Lebzeiten gewohnt hatte. Irgendwo dort, beim Kupfergrünen Turm der Peterskirche musste es sein, doch sie konnte es einfach nicht eindeutig in der Dämmerung ausmachen. Langsam wurde Vanessa gewahr, dass es zu tagen begann. Es war Zeit für sie, ihren Rundgang fortzusetzen. Mit vorsichtig gedämpften Schritten, um die vereinzelt noch singenden Vögel nicht aufzuschrecken, eilte sie über den Schlosshof und die Brücke und dann links einen leicht ansteigenden asphaltierten Weg entlang in Richtung Scheffelterrasse.

Die moosbewachsene, abgebrochene Hälfte des Dicken Turms sah bei diesem Wetter fast schwarz aus, weich glänzend, wie ein Insekt. Als Vanessa am oberen Ende des Weges angekommen war, spürte sie wie eine Kraft in ihr aufstieg. Dies war ihr Ort. Ihre Stadt. Hier war sie aufgewachsen. Auf ebendieser Terrasse hatte sie als junges Mädchen Radfahren gelernt. Langsam ging sie geradeaus an einer Treppe vorbei auf den Brunnen mit Vater Rhein zu. die allegorische Figur leuchtete durch die Dunkelheit. So hatte sie ihn nicht in Erinnerung. In ihrem Gedächtnis war die Figur gewaltig gross, nicht so feingliedrig, von algengrünen Schlieren überzogen. Kein weisses, artifizielles, von Menschenhand geschaffenes Steingebilde, sondern ein Teil der Landschaft und der Natur. Beinahe angewidert bog Vanessa auf halbem Weg auf einen querlaufenden Pfad ab, der das obere Drittel der Wiese von dem unteren mit seinem ewig trockenen Wasserbassin trennte.

An der Kreuzung zum Weg der Stadtseite bog sie rechts und dann gleich wieder links ab, und fand sich bald an einer Stelle, an der rechts ein verschlungener kleiner Weg abging, auf eine grosse, fast altarähnliche steinerne Bank zu. An einer steinernen Säule, auf der über einer Inschrift eine kupferne Büste angebracht war, blieb Vanessa stehen. Es war ein riesenhafter Schädel, mit hoher, kantiger Stirn und zerzausten Haaren. Die Goethe-Büste. Seit sie sich erinnern konnte, war Vanessa jedesmal, wenn sie in den Schlosspark kam, hier vorbeigegangen. Irgendwie hatte sie das Gefühl, sie müsse Goethe hier ihre Ehrerbietung erweisen. Lange bevor sie zum ersten mal auf diesen Pfaden gestanden hatte, war er hier schon umhergeschlendert, vermutlich ein Gedicht oder etwas anderes wunderbares in diesem gewaltigen Schädel, dessen Augen selbstbewusst und ein bisschen Müde dreinzuschauen schienen, dessen Mundwinkel nachdenklich nach unten verzogen waren, die Lippen fest aufeinander unter einer grossen, in Falten liegenden Stirn. Fast wie ein Doktor Mabuse, dessen eindrucksvoller Schädel doch auch auf die übermenschliche Ausstrahlung eines Passagiers auf einem Bodenseedampfer zurückging, auf dem Norbert Jacques in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts regelmässig gefahren war.

“Vermisst Du den Tag?” fragte er sie.

“Selten.” verneinte Vanessa. “Der Tag ist nicht meine Welt. Diese Dämmerung, die Stille, die Nacht war schon immer die Zeit, zu der ich mich am wohlsten gefühlt habe.”

“Ganz so wie ich. Ich habe mit der Einsamkeit immer mehr anfangen können, als mit der Menge. Und jedesmal, wenn ich mir Partner gesucht habe – richtige Partner, nicht untergebene – ist es mir zum Verhängnis geworden.”

“Heathrow.” murmelte Vanessa. “Er fühlte sich in der Dunkelheit wohl. Wenn es stockdunkel um ihn herum war, war er fröhlich, wie andere Leute in der warmen Sonne. Deshalb ist er wohl so gut im Erfüllen seiner Aufgabe.”