von Uli Kusterer

Die Frau war kaum wahrnehmbar im Dämmerlicht des alten baufälligen Gebäudes. Die Fresken auf den noch nicht abgeblätterten Putzfragmenten zwischen den hohen Glasfenstern mit ihren gebrochenen Scheiben zeugten von der Jahrzehnte zurückliegenden Vergangenheit dieses verlassenen Raumes als Gotteshaus.

Die Frau kniete mit der dunklen Haut ihrer bloßen Knie auf dem modrigen Holzboden, der an einigen Stellen bereits in den Estrich eingebrochen war. Ihr wallendes, schwarzes Gewand hatte sie sorgfältigst um sich herum nach aussen geschlagen, um eine Beschmutzung durch die spröden Holzlatten zu vermeiden. Sie hielt ihre Augen geschlossen, ihre Finger ruhten, zum Gebet gefaltet, auf dem filzigen Stoff. Einige Meter vor der knienden Gestalt steckte ein wuchtiges Zweihänderschwert in einigen festeren Latten, sein Griff reich verziert mit abstrakten Graten und Streben, beinahe wie Adern. Wie der Umriss eines christlichen Kreuzes fiel sein Schatten auf Gesicht und Schultern der Frau, und verbarg ihre Kontur noch mehr in der Dunkelheit. Nur ihre kurzen, blonden Haare liessen ihre breite Gestalt erahnen.

Ihr Gesicht war regungslos, nach innen gewandt, wo Bilder von grausamen Taten auf sie einstürmten. Grausam, nicht aufgrund ihrer Blutigkeit oder der Gewalt, die sie enthielten, sondern ob ihrer menschenverachtenden Art. Sie sah Männer und Frauen, die ohne Rücksicht auf die Menschen, auf Gottes Schöpfung, oder etwaige Folgen ihre Taten vollbrachten. Die töteten, verstümmelten und zerstörten mit einer ähnlichen Gleichgültigkeit, wie andere eine Fliege mit der Zeitung erschlugen. Ein Metzger sah die Notwendigkeit seiner Arbeit, und hatte daher doch einen gewissen Respekt vor den Tieren, die nicht nur seinen Kunden, sondern auch ihm das Überleben sicherten. Er hatte Interesse am Wohl seiner Tiere. Doch die Frau wusste, dass diese Menschen, die sie so klar sah, mit Blut und Gedärmen an ihren Händen, diese toten Körper nur als Rohmaterial sahen, dass es zu Formen, zu nutzen oder auszusortieren galt, wie es ihnen beliebte.

“Ich habe Deinen Ruf vernommen.” Intonierte sie demütig, immer noch bedrängt von dem blutigen Bild einer jungen Frau, der gerade ihr Kind aus dem Leib geschnitten worden war, und die noch mit offener Wunde ihre Arme nach dem Kleinen ausstreckte. “Sie haben die Unschuldigen geschändet. Auch gegen Deine Schöpfung haben sie sich vergangen.” Ihre Finger zogen an, “wieviele mussten ihretwegen Sterben? Es zählt nicht. Für sie nicht, und für Dich nicht. Denn Du weisst, dass jeder einzelne bereits zu viel ist, und hast mir auferlegt, dein Werkzeug zu sein.” Sie drückte die gefalteten Hände an ihre Brust, bevor sie weiter gegen die Schmerzensschreie der Opfer anschrie:

“Dein Wille soll geschehen. Das Schwert Davids wird Deinen Befehl ausführen.” Sie schlug ihre Augen auf, und sah durch die Dunkelheit und doch über den enthaupteten Körper eines Mannes den Zweihänder an, blickte dann weiter auf die Stelle an der Wand, an der früher einmal das Kruzifix gehangen hatte, dann zurück: “Ich kenne ihre Namen, doch dies Teilt den Strom ihres Lebens, auf dass er versiege.”

In einer ruhigen zeremoniellen Bewegung erhob sie sich und schritt gleichmässig gemessenen Schrittes auf die Waffe zu an das andere Ende des Raumes. Schwaches Mondlicht strahlte ihr durch die verschmutzten und gebrochenen Scheiben eines hohen schmalen Bogenfensters entgegen. Sorgfältig legte sie ihre Hände um den Griff, eine neben der anderen, zog das Schwert aus den Planken und hob es zu den Kreuzbögen der Decke an, nur Zentimeter vor ihrem Gesicht. Sie senkte das Haupt, schloss die Augen und sprach einen Psalm. Ihre Lippen waren vor Entschlossenheit angespannt, als sie die Augen wieder aufschlug und mit dem Schwert hoch über sich durch den Bogen des hohen beschnitzten Holzportals in die Nacht hinaustrat.


Hofstetter saß in seinem Büro, durch dessen graue Dämmerung der blaue Schein des Computerbildschirms besser drang als die trübe orangene Glühbirne in ihrer Sechzigerjahre-Fassung. Hofstetter benutzte den Computer nie. Genauso wie Kempf, war er da etwas eigen; sie gingen von Tatort zu Tatort, sammelten Hinweise, befragten Zeugen, und hielten sich auch sonst immer an das Reale, Greifbare. Und wenn Berichte von Spurensicherung oder Gerichtsmedizin hereinkamen, gab es noch die Kasperska, die ihnen gerne eine Kopie ausdruckte. Doch auf dem Schreibtisch war die Leuchtkraft des Gerätes immer noch unschlagbar.

So wenig er sich vorstellen konnte, sich vor eine Glühbirne zu setzen und in das Licht zu starren, konnte sich Hofstetter ausmalen, dass er an einem Computer sässe um die neuesten Berichte zu lesen, oder anderen seine Berichte zukommen zu lassen. Seine Abneigung gegen diese Art der Ermittlungsarbeit war bekannt, doch er brachte Ergebnisse. Und es ließ sich immer ein Kollege finden, der dafür, dass er sich nicht die Hacken wund laufen musste, gerne ein paar Stunden vor dem Computer einlegte.

Es war also nicht weiter verwunderlich, dass die Aufmerksamkeit des jungen Kriminalkommissaren nicht dem Bild auf seinem Alibi-Computer galt, sondern vielmehr einem Stapel gebundener Bögen, deren Überschrift “Die Psychologie des Ritualmordes” lautete. Geschrieben von einer Vanessa David. Vor einigen Monaten hatte er einen Bericht im Fernsehen gesehen, in dem er gehört hatte, dass diese Frau aufgrund ihrer besonderen Einsichten in die Natur der Verbrecher als eines von drei neuen Mitgliedern für die neue EU-Eingreiftruppe berufen worden war.

Dies wiederum bedeutete, dass sie ab jetzt auch für die Polizei hier in Heidelberg verfügbar war. Man musste nur den richtigen Dienstweg finden. Und das konnte er getrost Kempf überlassen. Der fand immer die Paragraphen, die aufgrund kleiner Lücken eine Abkürzung desselben zuließen. Wenn es ihnen half, einen Fall zu lösen, dann würden sowohl Hofstetter als auch Kempf alles auf sich nehmen.

So hatte er auch eine Arbeit dieser Frau gelesen, und festgestellt, dass sie zu ähnlichen Ergebnissen gekommen war, wie er sie erarbeitet hatte. Nur schien sie ihm mit ihren Erkenntnissen etwa fünfzig Jahre voraus zu sein. “Der typische Ritualmörder ist Wiederholungstäter” las er endlich wieder eine bekanntere Zeile, als plötzlich das Licht des Bildschirms erlosch.

Hofstetter atmete durch die Zähne aus; Er hasste es, wenn diese Maschine das tat. Als er Kasperska einmal darum gebeten hatte, das zu ändern, hatte sie nur irgendeine Abkürzung und eine Zahl von sich gegeben und angenommen, er wollte den Grund wissen. Er seufzte, legte das Heft weg und machte sich auf. Er hatte noch mit Kempf zu sprechen, bevor er den Tag und auch den letzten Fall mit einem Gerichtstermin abschloss.


Patricia stand am Rande einer Felsenklippe, ihre Augen verfolgten wie in der Tiefe die Wellen mit gewaltiger Kraft gegen die scharfen Felsen spritzten. Ruhig trat sie näher an die Kante heran und betrachtete die Wassermassen dort unten als sie von der trockenen Wiese auf felsigen Grund wechselte. Da stiess ihr ein rauer Windstoss entgegen, fuhr mit roher Kraft in ihr Haar, wechselte dann ruckartig die Richtung und wehte die Strähnen in ihr Gesicht. Wolken bildeten sich am Himmel und verdunkelten die Sonne. Patricia musste ihre Füsse fest gegen den Boden stemmen als der Wind an Stärke gewann und an ihrem Mantel zu zerren begann. Immer lauter und lauter toste der Wind um sie herum, erst wimmernd, dann summend, jammernd. Immer mehr wuchs er an, bis er schliesslich überall um sie herum pfiff und kreischte, beinahe wie ein … ein Schrei?

Pat sah an sich herab, an ihren Füssen vorbei; ihr Blick glitt die Klippen herab, entlang der Kanten, dem gebrochenen, ungleichmässig zerklüfteten und zerfurchten Stein, und folgte furchtsam den Zeichnungen der Natur hinab zu den Wellenkronen die aus der Ferne jenseits des Horizonts angeschwemmt wurden. Ihre Augen durchforschten die Wellen. Nichts. Nur Wasser das auf Stein trifft. Und die Erinnerungen. Die Erinnerungen, die sie die letzten fünf Jahre nicht aus ihrem Kopf verdrängen konnte. Die Erinnerungen, von denen sie befürchtete, dass sie sie bis an ihr Lebensende nicht verlassen würden. Erinnerungen an den Tod. Den Tod eines Geliebten.

Bevor sie diesen Gedanken vollenden konnte, nahm sie in der Wellenschlucht etwas wahr. Hatte sie nicht gerade das Grollen einer Explosion gehört? Ein Aufblitzen von Licht blendete sie, und dann war da etwas in der Tiefe; etwas das in den Wellen auf und ab geschleudert wurde. Anfangs konnte sie nicht klar sehen was es war, doch je mehr sie sich konzentrierte, je länger sie sich Gedanken machte, was es sein könne, je angestrengter sie versuchte, seinen Umriss zu erraten, desto klarer wurde die Form.

Und da schoss ein Schrei wie eine gleissend rote Fontäne aus ihrem Mund. Beinahe schmerzhaft klar fand sie das Bild dessen vor sich, was dort unten war: Der Umriss hatte die Form eines Mannes. Eines Mannes, den sie kannte. Eines Mannes, der verwundet war, blutete, von Kratzern übersät, von Narben zerfurcht. Eines Mannes, den die Wassermassen gegen die Felsengrate schleuderten, wodurch die Verwundungen die er von der Explosion davongetragen hatte nur noch verschlimmert wurden. Und da erreichte sie sein Blick, sie spürte wie seine Augen sie anzuflehen schienen, um Hilfe schrieen, und als die Wellen über ihm zusammenkrachten, sein Gesicht immer wieder zwischen den schäumenden Massen verschwand, unter Wasser gedrückt wurde, ihn in die Dunkelheit zogen, da begann auch er zu schreien. Er streckte seine Arme zu ihr hoch, seine gebrochenen Finger wanden sich, schienen beinahe ihr Gesicht zu berühren, und doch konnten ihre Hände ihn nicht erreichen. Dann verschlang ihn die schäumende Dunkelheit mit einem ohrenbetäubenden Donnern, bevor alles von einer Sekunde auf die andere totenstill war.

Pat’s Hand ballte sich gegen den Stoff zwischen ihren Fingern als sie etwas, nein, jemanden spürte. Es war, als stünde jemand hinter ihr, dessen Blicke über ihren Körper wanderten, sie bemassen, beurteilten. Als sie sich umwandte, fand sie sich ihrer Liebe, dem Mann dessen Ertrinken sie gerade erneut erlebt hatte, gegenüber. Direkt vor ihren Augen stand er, sein Gesicht trug einen kalten, abschätzigen Ausdruck. Ganz in schwarz gekleidet, streckte er seine Hand nach ihr aus, schlossen sich die schwarzen Handschuhe um ihren Hals, pressten gegen ihre Kehle. Doch er wollte sie nicht erdrosseln, sondern er stiess sie, nötigte sie mit rauher Gewalt und der rohen Kraft seiner steinernen Hände rückwärts, auf die Klippen zu. Als sie in seine Augen sah, begegnete ihr Gelächter, Härte, ein Lächeln voll Grausamkeit. Ihr Fuss trat rückwärts, suchte, und glitt ins Leere, sie schoss hinterrücks die Klippen hinab.

Als sie in die Tiefe hinabstürzte, sah sie ihren Angreifer dort oben stehen. Dann schälte sich eine kopflose Gestalt aus den Schatten hinter ihm, und schlug ihn mit der Faust mitten ins Gesicht, und er kam wie ein Stein in die Tiefe hinter ihr her. Pat sah wie die Klippe mit wahnsinniger Geschwindigkeit an ihr vorbeizog, wie die spitzen Steine am unteren Ende der Klippe auf sie zu rasten. Der Boden explodierte gegen ihren Brustkorb, schweissdurchnässt fuhr sie aus ihrem Bett auf.

Es war morgen. Die ersten Sonnenstrahlen zwängten sich durch die Lamellen des hölzernen Fensterladens, dessen ockergrüne Lackschicht an einzelnen Stellen durch den konstanten Ansturm von Sonne und Regen abgeplatzt war, und die bizarrsten Muster in die Lichtstreifen zeichnete, die wie Risse die gegenüberliegende Wand zerfurchten.

Patricias Hand kämpfte sich durch den Wasserfall schwarzer Haare, der schattenhaft alles Licht von ihrem Gesicht nahm, bis sie ihre Stirn erreicht hatte. In einer einzigen Bewegung strich sie heftig keuchend die Strähnen aus ihrem Gesicht und den Schweiss von ihrer Stirn.

So war es jeden Morgen. Derselbe Traum. Derselbe Albdruck auf ihrer Lunge. Seit fünf Jahren. Das einzige, was jeden Morgen zumindest ein bisschen veränderte, waren die Stimmen. Stimmen aus dem Haus, Stimmen aus der Nachbarschaft, Belangloses, Privates, Ärgerliches, Fröhliches. Wie Maden nagten sie sich durch ihre Stirn in ihren Geist, wie er zwischen Schlaf und Wirklichkeit sperrangelweit offen stand.

Bevor Patricia sich dessen gewahr wurde, hatten sich die Biester bis in ihr Innerstes vorgewunden, ihre Fetten Leiber wanden sich auf verworrenen Pfaden durch ihre Erinnerungen, beschädigten sie, verschlangen sie, verunreinigten sie mit ihren Ausscheidungen. Mit einem mal dachte sie an einen kranken Vater, den sie gar nicht hatte, bangte um eine Tochter, die jemandes anderen war.

Patricia biss die Zähne gegeneinander, ihre Handflächen fest gegen die Ohren gepresst, die Augen zusammengekniffen. Das Hämmern ihres Pulses durch ihre Hände und Augen war alles, was sie hörte und sah. Dumpfe, hektische Schläge, wie sie durch ihren Schädel dröhnten.

Sie versuchte, in dem Madengewirr das zu finden, was Gedeon ihr gesagt hatte: Das erste Wort, den ersten Schritt. Den Anfang. Mitten in der Nacht hatte er sie aufgeschreckt, und von ihr die drei Schritte verlangt, als die Droge ihren Geist noch betäuben konnte. Die Maden wanden sich, frassen sich weiter voran. Wo war das Wort? Wo war Carl? Wie zahle ich die Raten für den Wagen? Ist Vanessa etwas zugestossen? Ich werde diese Monster schon finden! LANGSAM. Die Bestie knurrt. Der Anführer weist sie zurecht. Bringt das Kind zurück ins Bett.

Dort war es gerade gewesen. Zwischen Fragmenten, ein Wort. In einem heissen, (Holst Du die Eiswürfel aus dem Gefrierschrank?) pulsierenden Rot hatte Gedeon es gefärbt, (Pastellfarben, wir brauchen hier unbedingt Pastellfarben für die Vorhänge) da das die erste Farbe gewesen war, die Pat in den Momenten von Überforderung eingefallen war. (Und nun noch die Vertices an den GLContext übergeben) LANGSAM. Das war es. Patricia begann ihren pfeifenden Atem zu stabilisieren, (Warum hat er mir nichts davon gesagt?) das Pochen zwischen ihren Ohren (Das ist unglaublich!) nahm ab. Langsam. (Der schnellste Mann der Welt!) Einatmen. Ausatmen.

Ihr Atem kam nun regelmässiger. (Sind fünfzehn Euro neunundneunzig ein fairer Preis?) Das Hämmern war einem langsam pulsierenden (Ist die Rechnung an Müller schon draussen?) Wellengang gewichen. Nun galt es, das (Drei, vier, fünf, sechs, sieben) zweite Wort zu finden.

Welches war es? Irgendwo zwischen den (der kann wohl Gedanken Lesen) sich windenden Madenkörpern musste es in den Wogen (Der sank wie ein Ziegelstein) schwimmen… In … Grün (Einatmen, Ausatmen). Wenn die Maden doch nur aufhörten zu beissen (voll gegen die MAUER gefahren ist er!), diese Nager zerlöchern noch meinen ganzen Kopf. Moment, da war was. Mauer.

Auf ihren Befehl hin begann sich vor Pats geistigem Auge Stein um Stein in einer langen (siehst du etwas…) Kette zwischen die Maden und ihren Geist zu (siehst du? nach dem aufblasen einen knoten.) drängen. Mit jedem Stein wurde das Geschmatze leiser, wichen die Wesen zurück (ich sage dir ich war’s nicht) und gaben Pats Geist frei.

Als die Mauer sich aus tausenden Backsteinen erbaut in die Höhe erstreckte, konnte Patricia ganz klar das dritte Wort erkennen: FOKUS. Das silberne Ziel. Die Konzentration auf etwas, das ihren Geist beschäftigte. Sie begann: “A. Aachen. Aal. Aall. Aar. Aarau. Aaron. Aas. ab. Aba. …”


Vanessa erwachte ungefähr um dieselbe Zeit erholt und ausgeschlafen. Sie streckte ihre Glieder unter dem dünnen Laken, bevor sie sich gemütlich erhob. Aus dem Nebenzimmer tönte ein verhaltener Aufschrei. Vanessa zuckte zusammen. “Arme Pat”, dachte sie, während sie ihre Kleider vom Boden aufsammelte, die in einer kapriziösen Linie von der Zimmertür zum Fussende des Pressspan-Bettes lagen.

Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, liess sie das Bündel wie es war in den runden Wäschekorb plumpsen. Sie blinzelte. “Autsch. Verdammt, die Linsen sind noch drin!” Noch nicht ganz wach, stolperte sie mit zugekniffenen Augen um den Bürostuhl und den Schreibtisch herum zu dem kleinen Waschbecken in der Ecke und pfuhlte hektisch die kleinen Plastikhalbschalen heraus.

Anstatt des vorherigen dunklen Brauntones leuchtete ihr ein bekanntes Grün entgegen, das sich deutlich gegen die feinen roten Haarkapillaren ihrer gereizten Augen absetzte. Sie blinzelte ein paarmal, um die Augen zu befeuchten. Vanessa warf einen Blick nach links aus dem Zimmerfenster über dem Schreibtisch, welches auf die kleine Wiese mit dem verborgenen Aufzug des Hangars blickte.

“Nicht besonders sonnig, aber hell genug.” dachte sie bei sich als sie ihre Augen hinter der Sonnenbrille verbarg.

Zum ersten mal war sie froh, dass Heathrow gestern nacht hatte fort müssen, so würde sie kaum in die Situation kommen, die Brille absetzen zu müssen. Noch immer wusste niemand, was ihr Freund Heathrow vorhatte, und natürlich war es ein unvertretbares Risiko für einen Menschen, der von seltsamen Attentätern verfolgt wurde, ohne jeglichen Schutz aus dem Haus zu gehen, aber sowohl Vanessa als auch die anderen hatten aufgehört sich über diesen Mann zu wundern. Diese Art von Unvernunft war ihm einfach nicht auszutreiben gewesen. Womöglich war es einfach seine Bestimmung, starrköpfig sein Leben für irgendein geheimes Ziel zu riskieren. Und solange Niko für ihn bürgte, würde er dies wohl auch weiterhin tun können.

Als Vanessa gerade die dunkelrote Uniformhose über ihre schlanken Beine zog, klingelte das Telephon auf dem Flur. Noch während sie die Bluse zuknöpfte, trat sie auf die Zimmertüre zu. Sie nahm draussen den Hörer von der Gabel und meldete sich.


Vanessas Füsse setzten sanft auf dem grauen Plüschteppich auf. Der erste Polizist hatte überhaupt nicht bemerkt, dass sie in seinem Rücken in die Wohnung geschlüpft war. Auch ein weiterer nahm ihre gedämpften Schritte auf dem weichen Teppich nicht wahr, noch nahm er anderweitig Notiz von ihr. Erst der Dritte, ein untersetzter, grauhaariger Wachtmeister, deutlich älter als die vorigen beiden und mit einem leicht knittrigen senfgelben Hemd und grüner Hose bekleidet, erblickte sie im Augenwinkel als sie gerade vom Flur in das Wohnzimmer trat.

“Halt!” stolperte er ihr nach. “Hier dürfen sie nicht hinein!” warf er hinterher, als sie mit einem schnellen Schritt über eine zerbrochen am Boden liegende Stehlampe stieg, vorbei an einem Regal vor dem einige Bücher am Boden lagen. Am anderen Ende einer Sechzigerjahre-Couch blieb Vanessa ruhig stehen, und betrachtete aufmerksam die gerahmten Photos und Relief-Replikate an der ockergrünen Rauhfasertapete, unter denen eine von einem grossen Laken verborgene Person lag. Etwa auf Höhe des Kopfes, oder etwas niedriger, hatte der Teppich eine auffällig grosse Blutlache aufgesogen, die irgendwo unter dem Tuch ihren Ursprung zu haben schien. Als der alte Wachtmeister gerade nach ihrer Schulter greifen wollte, machte Vanessa einen flinken Ausfallschritt nach vorne, kniete sich hin und betrachtete eine Schusswaffe, die zu Füssen des Toten lag. Auf gleicher Höhe an der Wand hing eine weitere Photographie.

“Bleiben sie stehen!” forderte sie der Polizist ein weiteres mal auf, als Vanessa sich einem alten Holzschreibtisch der zur Couch passte, näherte. Ein Polizist in Zivil mit kurzen dichten Haaren, die sich leicht kräuselten, ging gerade die vereinzelt auf diesem Schreibtisch verstreuten Briefbögen durch. Er wandte sich um als sie näher trat, musterte sie kurz und winkte dann in einer angedeuteten Handbewegung seinem Kollegen ab:

“Das geht in Ordnung, Franz.” Dann wandte er sich ganz Vanessa zu, wobei seine dunkle Lederjacke ein leichtes Quietschen von sich gab. “Sie müssen die Polizeipsychologin sein?” Erkundigte er sich, und versuchte ihre Augen durch die Sonnenbrille zu erkennen. Vanessa senkte ihren Kopf und blickte ihn über den Rand an:

“Vanessa David. Sie sind Hofstetter?”

Der Angesprochene nickte erfreut:

“Ja. Kennen wir uns? Wachtmeister Kempf hat sie doch verständigt.” fragte er mit leichtem Kopfnicken in Richtung des älteren Wachtmeisters der sie als erster bemerkt hatte.

“Berufskrankheit,” lächelte Vanessa ihn an, “ich habe schon einiges über sie gehört in den verschiedenen Dienststellen, da war der Rückschluss von ihrem Aussehen kaum Arbeit.” Als ihr bewusst wurde, dass sie dem Mann gerade ohne ihre Linsen in die Augen blickte, schob sie hastig die Sonnenbrille wieder in die Sichtlinie.

“Ich hoffe, sie haben nur gutes gehört?” begann er, dann in Reaktion auf ihre vermeintliche Ablehnung: “Nun, Sie sehen was wir hier haben. Bis jetzt ist dies der einzige Fall dieser Art, aber sie sollten mal einen Blick auf die Leiche werfen, dann wird Ihnen sicher klar, warum wir sie wollten.”

Vanessa kniete am Kopfende des Lakens nieder und hob es vorsichtig an:

“Ein glatter Schnitt. Ziemlich tief, würde ich nach der Blutmenge sagen.” Als sie das Laken weiter anhob, wippte der Kopf seltsam nach hinten. “Oh.” murmelte sie beiläufig, linste noch kurz in Richtung des Körpers, bevor sie das Laken wieder herabliess.

Hofstetter sah sie erwartungsvoll an. Vanessa genoss die Aufmerksamkeit nur eine Sekunde, und zeigte dann mit einer Handbewegung an, dass er ihr auf ihrer Runde durch das Zimmer folgen solle. An der Tür, die flach am Boden lag, blieb sie stehen:

“Wie wär’s mit Ihrer Meinung?” fragte sie den Kommissar mit prüfendem Gesichtsausdruck. Hofstetter blickte etwas verdutzt zurück, entschied sich dann aber, mitzuspielen:

“Ein ziemlich kräftiger Täter, dass er die Türe aus den Angeln reissen konnte?” Vanessa schüttelte nur den Kopf, deutete dann vage auf die Scharniere und ein kleines Metallklötzchen am Boden neben der Tür. Hofstetter kniete sich nieder und betrachtete sie genauer:

“Die Scharniere sind halbiert, nicht herausgerissen. Und dieser Klotz … ein Teil des Türriegels?” Vanessa lächelte:

“Also?”

“Hat der Täter ein Schneidewerkzeug benutzt.”

Ohne einen weiteren Kommentar setzte Vanessa ihre Runde fort. Die zerbrochene Lampe, das Bücherregal. Mit erwartungsvollem Gesicht sah sie Hofstetter an, der sich diesmal die Zeit nahm, zuerst die Szene zu betrachten.

“Es gab einen Kampf. Vermutlich hatte er die Waffe im Bücherregal versteckt, oder wurde beim Lesen überrascht–” Vanessa strafte ihn mit vorwurfsvollem Blick. Sie deutete auf die Lampe und auf jedes der herausgerissenen Bücher. Er sah die Stehlampe ein weiteres mal an. In ihrem Stil fand sich eine Kerbe.

“Das Schneidewerkzeug?” Vanessa zeigte keine Regung. Er betrachtete die Bücher: “Darwin, Freud … lauter wissenschaftliche Sachen… aber hier ist das Alte Testament.” Er sah kurz auf, doch Vanessa hatte ihre Runde bereits fortgesetzt zu der Wand mit den Photos: Eines zeigte einen kleinen Jungen dunkler Hautfarbe, mit schwarzen Kräuselhaaren vor einem Haus, ein anderes zeigte eine Gruppe von Menschen in weissen Labor- oder Arztkitteln vor einem grösseren Gebäude. Einer von ihnen schien unfassbar alt und dürr, mit einer knorrig-spitzen Hakennase, ein anderer etwas bulligerer sass in einem Rollstuhl. Es war auch eine schwarze Frau unter ihnen, und ein etwas dicklicher, grosser Mann neben einem mit einem feuerroten Haarschopf.

“Das ist das Opfer.” meinte Hofstetter und wies auf den Dicken auf dem zweiten Bild. Vanessa stand inzwischen schon am Fusse des Opfers. Hofstetter holte sie ein und meinte:

“Wohl ein Waffennarr, es ist eine sehr alte Waffe, zweiter Weltkrieg, aber er hatte wohl keine Gelegenheit mehr, sie abzufeuern.”

Vanessa liess sich im Schneidersitz neben dem Toten gemütlich nieder und begann dann in professionellem Ton:

“Der Täter hat mit einem sehr scharfen, dünnen Gegenstand von aussen die Türe herausgeschnitten. Drei Schnitte. Dann wurde die Tür eingetreten. Das Opfer hat irgendwann in dieser Zeit davon Notiz genommen und trat zur Türe, um nachzusehen. Vermutlich hat der Täter dann mit dem scharfen Objekt das Opfer angegriffen, und beim Ausholen die Lampe erwischt. Ich schätze der Täter war nicht sonderlich stark, da das Opfer dann genügend Zeit hatte, in das Wohnzimmer zu entkommen, während der Täter seine Waffe von der Lampe befreite.

Im Wohnzimmer wurde die Tat dann ausgeführt. Das Opfer hatte zwar noch Gelegenheit, die Pistole herauszuziehen, aber nicht sie zu laden oder zu entsichern.” Sie schenkte Hofstetter eins ihrer schönsten Lächeln, bevor sie fortfuhr:

“Ich würde bei der scharfen Waffe auf eine Art Schwert tippen, mit der Sowohl die Tür aufgebrochen wurde, als auch die Tat durchgeführt wurde. Mein persönlicher Favorit wäre ein Langschwert, was auch die Geschichte mit der Lampe erklären würde, falls es eine kleine Person knapp über 1,50m war. Den Waffennarren halte ich für unwahrscheinlich, dann hätte er sicher die Pistole besser gepflegt. Der Hahn ist ja schon angerostet.”

“Und was ist mit den Büchern?” fragte Hofstetter mit süffisant angriffslustigem Lächeln.

“Auf dem Hinausweg arrangiert. Es würde mich sehr wundern, wenn das Opfer ein regelmässiger Kirchgänger gewesen wäre. Er hat kein Gotteslob, kein Gemeindeblatt, kein Messbuch, nichts dergleichen. Auch keine Kreuze oder Ichtys-Symbole oder Chi-Ros. Stattdessen nur wissenschaftlich-philosophische Literatur. Das Alte Testament passt überhaupt nicht, und hätte auch mit den anderen Büchern keinen Platz im Regal.

Ich nehme an, der Täter hat die Bücher herausgerissen, und dann als Zeichen das religiöse Buch dazugelegt.”

Hofstetter bot ihr seine Hand zum Aufstehen an. Vanessa nahm sie, obwohl sie aus eigener Kraft schneller gewesen wäre. Er hatte sehr warme Hände. Ihr fiel ein, dass sie noch nicht gegessen hatte. Ihre Hände trennten sich, und Vanessa begann hastig:

“Können sie mir Photos von alledem besorgen und den Bericht der Spurensicherung und die Akte des Opfers an diese Adresse schicken?” Er blickte überrascht auf ihre Visitenkarte in seiner Hand.

“Natürlich.” Murmelte er verdutzt.

“Ich melde mich bei Ihnen auf dem Revier, wenn ich Neues habe.” Lächelte sie ihn an.

“Gerne!” rief er ihr nach.

“Hübsch.” hörte er Kempf neben sich.

“Hör auf Franz, das ist es nicht.” erwiderte Hofstetter.

“Du lächelst.” sagte Kempf nur. Sein zerrupfter Schnurrbart deutete mit einem Zucken ein Grinsen an.

“Dir kann man auch nichts verbergen?” grinste Hofstetter, sich ergebend.

“Nichts mit so schönen Beinen und–”

“Franz!”

Kempf grinste nur: “Ich sage doch nur was ich sehe!”

“Jaja, Deine verdorbenen Augen kenne ich zur Genüge … !” lachte Hofstetter bevor er sich wieder dem Schreibtisch zuwandte. Ihre grünen Augen kannte er nun auch.


Doktor Mertz war gerade dabei, die Spuren von ein paar Dutzend Jahrhunderten von einer weiteren Gruppe von Wandgemälden zu entfernen, als der Lärm begann. Sie hatte nicht gewusst, was sie sonst in dieser verdammten verlassenen Höhle hätte tun sollen, bis sie hier waren. Im Gegensatz zu Doktor Schuller hatte sie keinen Führerschein, könnte also nicht ohne weiteres in die Stadt fahren, selbst wenn das Hochwasser dies erlaubt hätte.

Das Getöse nahm zu, und mit einem mal bemerkte sie, wie der Sand von draussen durch den Höhleneingang hereingeblasen wurde. Das war kein Wind! Sie sprang auf und rannte zu dem felsig-feuchten Rundbogen. Unterwegs riss sie immer wieder Planen vom Boden und hängte sie so gut es ging schützend vor die jahrtausendealten Wandmalereien.

Endlich war sie am Haupteingang des weitverzweigten Höhlensystems angelangt. Über ihr fand sich die Quelle des Lärmes: Ein Helikopter, der gerade zur Landung auf dem kleinen flachen Plateau vor der Höhle ansetzte. Als der Druck des Windes stärker wurde, suchte Elisabeth Mertz wieder Schutz in der Höhle. Von dort aus beobachtete sie, wie das grün-silberne Polizeigefährt aufsetzte, die Rotoren langsam ihre Geschwindigkeit reduzierten, bis sie sich nur noch träge ein paarmal drehten.

Nach einer Weile öffnete sich die hintere Türe und ein Mann mit kurzen, sich kräuselnden dunklen Haaren und Lederjacke stieg aus und blickte sich einen Moment um, bevor er dann geduckt auf sie zukam. Einige Meter hinter ihm folgte eine junge brünette Frau mit etwa schulterlangen Haaren.

“Doktor Mertz?” Erkundigte sich die Frau als sie ihren Kollegen eingeholt hatte.

“Ja.” Elisabeths Hände zitterten.

“Dies hier ist Polizeikommissar Hofstetter, und mein Name ist Vanessa David. Kripo Heidelberg. Können sie uns die Stelle Zeigen?” Elisabeth nickte nur, und wandte sich dann wortlos um und verschwand im Höhleneingang. Vanessa und Hofstetter schlossen schnell zu ihr auf. Es ging ein paarmal links, ein paarmal rechts durch das Höhlenlabyrinth, und nach der dritten Verzweigung, die genau den vorhergehenden glich, sahen die drei sich am Rande einer Schräge im Felsboden, die auf eine ungefähr drei Meter tiefe Kuhle zuging.

Dort unten lag ein Mann mit feuerroten Haaren. Er trug einen ähnlichen Arbeitskittel wie die Doktorin. Es schien als wäre er gestürzt und hatte sich das Genick gebrochen. Unter ihm lag ein weiterer Körper von ähnlicher Statur, sofern sich das bei dem Zustand der Verwesung, in dem sich der zweite Körper befand, beurteilen liess.

“Haben sie ein Seil, das dort hinunterreicht?” erkundigte sich Vanessa. Als Elisabeth nickte, nickte Vanessa auffordernd zurück. Dann sprang sie mit einem wohlkalkulierten Satz hinunter in die Kuhle zu den beiden und vollzog eine tadellose zwei-Punkt-Landung. Sie klopfte den Staub von ihren Händen und machte sich dann an die Untersuchung der noch nicht verwesten Leiche.

Hofstetter zuckte entschuldigend mit den Schultern: “Ich glaube, sie holen besser das Seil, sonst muss sie es sich dort unten gemütlich machen …” Elisabeth Mertz schüttelte einen Moment verdutzt den Kopf, bevor sie den Weg zurückging, den sie gekommen waren.

“Das Gesicht habe ich irgendwo schon mal gesehen.” rief Vanessa nach oben. “Ich würde sagen, der liebe Doktor ist gesprungen. Die Schräge ist nicht steil genug, als dass er nicht hätte bremsen können. Und er liegt auch viel zu weit von der Schräge entfernt.”

“Also war es nicht unser Täter?” fragte Hofstetter als Dr. Mertz zurückkehrte. Vanessa atmete hörbar ein:

“Ich denke doch. Da ist eine Schnittwunde, die sicher zu unserem Zweihänder passt. Er ist wohl ausgewichen und hat den verfügbaren Boden überschätzt.” Vanessa blickte zu ihm auf. “Jetzt wäre das Seil ziemlich nützlich…” meinte sie nur lapidar.

“Ja, Sahib.” erwiderte Hofstetter grinsend und liess das eine Ende zu ihr herunter. Sobald sie es mit einer Hand erreichen konnte, begann sie, sich mit erstaunlicher Geschicklichkeit heraufzuziehen. Wäre sie nicht so leicht, hätte Hofstetter vermutlich das Gleichgewicht verloren, und wäre ihr entgegengestürzt. Nur Sekunden später fand Hofstetter sie direkt vor sich, ihre Brust berührte fast seine. Vielleicht wäre das gar keine so schlechte Art zu sterben, überlegte er einen Moment.

“Danke.” lächelte sie, ohne Anstalten zu machen, den Abstand auf ein normales Niveau zu erhöhen. “Wir brauchen die Spurensicherung hier. Besonders auf der Schräge, und sie sollen einen Seilkran mitbringen, damit sie da unten nicht noch mehr zertrampeln als ich.” Ein weiterer dieser Atemzüge, die Hofstetter aus irgendeinem Grund immer so nervös machten. “Und sie sollen die alte Leiche in Zusammenarbeit mit Dr. Mertz auch untersuchen. Ich habe da so eine Ahnung…”

“Eine Ahnung?” erkundigte sich Hofstetter, während er das Schwingen ihrer Hüften genoss, als sie zielsicher den Weg zurück antrat. Sie wandte ihren Oberkörper zurück und tippte mit dem Zeigefinger demonstrativ an ihre Nase. Dann lächelte sie ihn erneut an und liess die anderen beiden verdutzt zurück.

Als Hofstetter in den Helikopter stieg, um die Anweisungen an das Revier weiterzuleiten, beobachtete ihn aus einem guten Kilometer Entfernung ein Mann mit langen, blonden Haaren, sein eines Auge hatte er geschlossen, während das andere, offene, hell leuchtete. Mit einem Zeigefinger fuhr er die Schläfe entlang als bediente er ein Teleobjektiv, während er ein Funkgerät vor seinen Mund hielt:

“Thot, hier Weber. Es sieht aus, als hätte in Mauer jemand meinen Auftrag schon erledigt.”

“Rückkehr.” flüsterte eine kratzende Stimme knapp.


Als Hofstetter sein Büro betrat, sass Vanessa auf der Tischplatte seines Schreibtisches. Ihre langen Beine gegen die in etwa einem Meter Entfernung verlaufende Wand gestemmt, hatte sie sich etwas zurückgelehnt und studierte einige Hefter, die auf dem Tisch verstreut lagen. Und jetzt, wo er ihre Haltung genauer betrachtete, wurde ihm bewusst, dass sie eigentlich auch lag. Und sie sah dabei noch unverschämt gut aus.

Eine Weile stand er einfach da und sah ihr beim Lesen zu. Sie hatte ihre feuchten schulterlangen Haare etwas zurückgebunden, wodurch er jede Regung in ihren hübschen Gesichtszügen deutlich sehen konnte. Sie trug Sportkleidung; Leggins und ein Sweatshirt, dessen weiter Kragen über ihre linke Schulter heruntergeglitten war. Ihre Haut glänzte.

Hofstetter spürte ein Kratzen in seinem Hals, er räusperte sich. Ruhig blickte sie auf. Natürlich hatte sie ihn schon lange bemerkt, sie hatte nur gewartet, dass er etwas sagte. Diesmal lächelte sie ihn nicht an. Ihre Lippen waren in einer Ruhestellung, die Kempf wohl als “Knutschkissen” bezeichnet hätte. Hofstetter suchte nach seiner Stimme, fand sie dann irgendwann deutlich weiter unten als er sie erwartet hatte, und trat an den Schreibtisch heran:

“Ich sehe, sie haben die Akt–”, sein Hals war wieder so trocken als ihr Kragen noch ein wenig herabglitt und ihr Schlüsselbein freigab, “Akten gefunden.” Sie lehnte sich weiter zurück, auf die Ellenbogen gestützt, und blickte von ihrer tieferen Lage auf dem Schreibtisch zu ihm hinauf.

“Die letzte dürfte sie interessieren;” fasste sich Hofstetter wieder, “dort haben wir eine Liste aller in Frage kommenden Händler und Sachverständigen, die ein passendes Langschwert – als solches hat es die Spurensicherung identifiziert – verkauft haben könnten. Interessanterweise kommen nur drei in Frage.”

“Worauf warten wir dann noch?” sah er auf einmal ihre Lippen vor sich.


Obwohl das Labor von Unmengen kalt blau leuchtender Neonröhren erhellt wurde, verschwanden die Ecken des kargen Raumes in seltsam graubraunen Schatten. Der fensterlose Raum war klinisch sauber, und doch waren die Wände gemasert von den mattbraunen Flecken verschiedener Flüssigkeiten, die sich dort explosionsartig verteilt hatten, und ergaben zusammen mit dem gekachelten, graugrünen Boden eher den Eindruck eines Schlachthauses, als eines Forschungsraumes. In der linken Hälfte des Raumes, umgeben von einem Rechteck aus Tischen, das auf drei Seiten durch gerade einmal mannsbreite Durchgänge unterbrochen war, standen mit ein wenig Abstand zwei etwas höhere Tische mit metallener Arbeitsfläche, die jeweils etwa die Ausmasse eines Menschen hatten. Die teilweise von Korrosion und Reinigungsmitteln matte Fläche des Tisches war kaum merklich gewölbt, fiel aber zum mit Ablaufrinnen umschlossenen Rand hin ab. Auf kleinen Beistelltischen zu beiden Seiten fanden sich Operationsbesteck und andere martialisch anmutende Gegenstände, jungfräulich glänzend.

Ungefähr in der Mitte der anderen Hälfte des Raumes, wo auf 12 Quadratmetern erstaunlicherweise keine Tische mit Reagenzien oder Zentrifugen oder anderen Geräten standen, sass ein etwas bulliger Mann in einem altmodischen, klappbaren Rollstuhl, dessen Sitzfläche nur aus einem von Gebrauchsspuren zerwellten grauen Kunstleder bestand. Der Stuhl quietschte ein wenig, als er sich vorbeugte, um eine kleine verschlossene Ampulle zu betrachten, die er zwischen Zeigefinger und Daumen hielt. Mit einem dicken Finger schnipste er gegen das Gläschen, wobei sich ein paar Luftbläschen, die sich in der leicht gelblichen Flüssigkeit gebildet hatten, nach einigen seltsamen Irrwegen in einer grösseren sammelten.

“Und Du meinst, eine grössere Menge dieses Extrakts wäre erfolgreich?” murmelte er kaum verständlich in den Raum hinein.

“Definitiv.” krächzte eine Stimme, die unter einer flackernden Neonröhre stand. Der alte Mann zog eine Spritze auf, seine dürren, knochigen Finger zitterten leicht. “Aber es schlägt nur an, wenn das Subjekt bereits Anlagen zu der Fähigkeit besitzt.”

“Also brauchen wir Weber weiterhin.” grummelte er.

“Wenn es nur so einfach wäre. Weber besitzt nur aktive Fähigkeiten, wir benötigen passive. Aber wir könnten transplantieren.” Entgegnete der Alte mit der knochigen Nase seinem Gegenüber, der gerade über eine knirschende, gebrochene Kachel hinweg zu ihm herüber kam.

“Haben wir denn einen Spender mit ausreichenden Fähigkeiten?”

Der Alte beugte seinen Kopf in Andeutung einer Antwort.

“Dann haben wir nur noch ein Problem.” murmelte der Jüngere entschlossen.

“Nein.” entgegnete der Alte gedehnt, “es ist einfach, der Polizei einige Hinweise zukommen zu lassen. Es wird eine gute Ablenkung abgeben.”


Der Laden des ersten Händlers sah nicht gut aus, überhaupt nicht gut. Das Schaufenster war eindeutig staubig, und als sie durch die offene Türe den Laden betraten, sah es auch dort nicht besser aus. Überall durch die Endlosen Korridore zwischen Mahagonischränken, Ankleidetischen und Barockstatuen rieselte einem der Staub entgegen, den der Windzug der Türe gelöst hatte. Wer hier handelte, musste seit Tagen nichts mehr verkauft haben. Hinten an einer Theke stapelten sich dutzende von Paketen, die abgesehen von verschieden starken Staubschichten wirkten, als hätte sie nach Ankunft des Paketboten kein Mensch mehr eines Blickes gewürdigt.

Vanessa blieb stehen und betrachtete eine Macke in den Bodenbrettern, woraufhin Hofstetter beinahe über sie stolperte.

Sie blickte zu ihm zurück und schüttelte ohne ein weiteres Wort den Kopf: Unwahrscheinlich, dass sie hier eine nützliche Auskunft bekämen. Hofstetter bestätigte. Seine Nackenhaare sagten ihm dasselbe. Irgend etwas war hier sehr, sehr seltsam. Zum zweiten mal blieb Vanessa abrupt stehen, und für einen Moment schien es, als rieche sie etwas. Ihre Augen wurden zu schlitzen, als sie auf die Tür zum Hinterzimmer blickte.

Mit flinken gezielten Schritten lief sie auf die abgegriffene Theke zu, machte einen kleinen Bogen und schritt durch die Türe ins Hinterzimmer. Als Hofstetter wieder zu ihr aufschloss, sah er sie neben einer eingetrockneten Blutlache am Boden knien. Sie hatte ein paar Handschuhe übergezogen, und in der Hand hielt sie den Geldbeutel der Leiche.

“Der Eigentümer?” fragte Hofstetter. Vanessa nickte beiläufig, als sie begann, den Inhalt der kleinen Ledermappe auf einem nahegelegenen Tisch auszubreiten. Sie fluchte.

“Was ist?” Er trat näher und zog sich die Einweghandschuhe über die Finger. Sie drückte ihm ein zerknittertes, eingerissenes Stück Papier in die Hand. Ein Photo. Eine Gruppe von Menschen in weissen Kitteln vor einem Gebäude. “Das hatten wir an einem der Tatorte.” erkannte Hofstetter.

“Ja, das ist das Photo, bei dem wir bis jetzt weder herausfinden konnten, um wen es sich handelte, noch wo das Bild aufgenommen wurde. Aber ich könnte wetten, dass das unsere Verbindung ist.” Sie zog eine weisse Plastikkarte aus dem Geldbeutel. “Das hatten die anderen auch. Genauso unbestimmbar.” sie reichte es weiter.

“Sieht aus wie eine Kennkarte, zum Einlass in irgendeine Sicherheitszone.” meine Hofstetter. Die Karte war leer und weiss, bis auf ein Passbild und eine kleine Einbuchtung zum Befestigen einer Klammer. Ausserdem fand Hofstetter darauf eine Art Logo, drei kantige Buchstaben, übereinandergelegt. Ein C oder G, ein Z und ein R.

“H-hm.” murmelte Vanessa, die Augen auf eine kleine Erhöhung auf einer Seite der Karte gerichtet. “Ist was ziemlich wichtiges. Das ist ein ziemlich teuerer Chip, nicht dieses Telephonkartenzeug das die Banken verbauen…” Hofstetter flippte sein Handy auf und drückte eine Kurzwahltaste:

“Wird Zeit, dass wir die Angelegenheit melden.”

“Ich brauche eine Analyse aller Kerben und Macken, und Vergleiche mit den Zweihänderspuren.” bemerkte sie über seine Schulter.

Hofstetter nickte: “Schon arrangiert.”

Eine halbe Stunde später trat Vanessa in den Hof hinter dem Geschäft. Die schmale Holztür fiel hinter ihr klappernd zu, prallte noch ein paarmal zurück, bevor sie sich mit ihrer alten Position zufrieden gab. Die junge Frau hob die Hand über ihre Augen um sie von den ersten Sonnenstrahlen abzuschirmen. Routiniert glitt ihr Blick über den gepflasterten Boden, dann den rauen Putz der Wände entlang. Abgesehen von etwas Bärlauch der ungewöhnlicherweise zwischen einigen Kacheln wuchs, begegneten ihre Augen nur einem alten Lattenrost, der in einer Ecke des schmalen Hofes vor sich hin rostete. Die Schritte des Schutzmannes, der den Hofausgang gegenüber der Tür bewachte, waren die einzigen Geräusche.

Eine Hand auf ihrer Schulter liess Vanessa aufschrecken. Sie fuhr herum, und vor ihr stand eine Asiatin in Jogginghosen und einem kurzen, bauchfreien Top, mit der Aufschrift “Heidelberg University” – das war neu. Die harten Falten die ihre Wangen spalteten, die Augen, die genauso schwarz waren wie die von Augenhöhe abwärts abrasierten Haare und die verwitterte, grüne Linientätowierung auf der linken Hälfte ihrer Stirn, die waren Vanessa nur zu bekannt.

“Karlev.” stellte Vanessa unterkühlt fest. Die angesprochene schien weder darum besorgt, dass sie sich hier an einem abgesperrten Tatort befand, noch änderte ihr Gesicht seinen abschätzigen Ausdruck.

“Ich habe ihnen gesagt, dass ich Dich hier finden würde. Sie haben mir nicht geglaubt.” Ihre Stimme verströmte das Bewusstsein ihrer Macht über die Polizistin, “Nun, ist noch etwas übrig?” Vanessas Gesichtszüge nahmen eine Ernstheit an, die man jemandem ihrer jungen Erscheinung nicht zugetraut hätte:

“Ich ermittle hier.” erklärte die Brünette trotzig. Es war nicht schwer zu erraten, was Karlev von dieser Antwort hielt. “Ich soll Dich warnen. Sie beobachten Dich. Deine … “, wenn Ihr Mund dazu in der Lage war, so lächelte er wohl, “Privilegien … können so einfach entzogen werden, wie Du sie bekamst.” Ohne eine Antwort zu erwarten, wandte sie sich in Richtung des Ausgangs. Vanessa blinzelte, und war nicht überrascht, als die Frau in diesem kurzen Moment verschwunden war. Der Schutzmann hatte ihre Anwesenheit nicht einmal bemerkt.


Nikolej befand sich gerade am Kaffee-Automaten, eine frische Tasse Mocca in der einen, Berichtsformulare in der anderen Hand, als ein melodisches Zwitschern einen Anruf anmeldete. Er setzte die Formulare auf das kleine Telephontischchen, die Tasse darauf, und nahm den Hörer ab. Bevor er sich noch melden konnte, begann sein Gesprächspartner. Wie durch einen Nebel nahm Niko die ersten beiden Worte wahr, dann kam eine Pause, die er dazu nutzte, mit verdutzt geweiteten Augen seinen Atem wieder unter Kontrolle zu bringen.

“Woher kennen Sie diesen Namen.” presste er angespannt in das Mikrofon.

“Ich werde Ihnen ein Zeichen geben, und sie werden wegsehen.” Und dann war die Leitung still.

Für einen Moment war Nikolej unbeweglich. Äusserlich. Sein Gesicht war wie aus Blei gegossen. Als erstes brachen seine Augen aus. Verzweiflung floss aus ihnen über seine Züge, um sich dann langsam zu verwandeln, und über Resignation endlich zu einem Entschluss zu finden. Mit angespannter Hand drückte er wie in Zeitlupe den Hörer auf die Gabel zurück. Er sog den Atem ein. Seinen letzten Atemzug als freier Mann, wie er glaubte.

“Nein.”


“Verdammt!” Hofstetter fuhr herum:

“Haben sie etwas?” blickte er die am Boden sitzende Vanessa mit Rehaugen an. Um sie herum lagen dutzende von Tatortphotos, Obduktionsberichte. Sie hielt ihm 3 Photographien entgegen.

“Die Photos, die wir bei den Opfern gefunden haben.” erklärte sie. Hofstetter nickte. Natürlich erinnerte er sich. Obwohl die Bilder anfangs gleich zu sein schienen, bemerkte er jetzt, dass alle feine Unterschiede zeigten. Sie waren zu demselben Termin, an demselben Ort aufgenommen worden, aber keines war wie das andere. Mal standen sie ein wenig anders, mal waren ein paar Personen abgeschnitten. Das erste Opfer hatte ein Bild mit dem zweiten Opfer darauf besessen, das zweite Opfer eines mit dem dritten.

“Also, wen konnten wir bis jetzt identifizieren?” deutete Hofstetter auf eine der Akten vor Vanessa.

“Doktoren Schuller, Maresch, und den Antiquitätenhändler Lehnick.” Die bisherigen Opfer. “Aber es scheint, als sei keiner von ihnen in den Datenbanken. Nur anhand der Personalausweise haben wir sie so schnell gefunden.”

“Ungewöhnlich.” Murmelte Hofstetter. “Nicht mal ein Strafzettel, nie als Zeuge vor Gericht, nichts …”

“Hat Lehnick promoviert?” Vanessa deutete auf eine der Akten neben Hofstetters Fuß.

“Psychologie.” Hofstetter schlug die Akte wieder zu und legte sie zurück.

“Eine Gemeinsamkeit: Alle Akademiker.” Vanessa rieb sich das linke Schlüsselbein.

“Ich kümmere mich um eine Überprüfung des Lebenslaufs. Vielleicht haben wir ja Glück, und sie stammen aus demselben Jahrgang, oder hatten denselben Doktorvater.”

Vanessa nickte desinteressiert. Unwahrscheinlich, aber notwendig.

“Soll ich auch um eine Kopie für Sie bitten?” fragte Hofstetter. Vanessa sah auf.

“Ja, danke.” Lächelte sie ihn an.