von Uli Kusterer

Der Anfang.

Es war der sechzehnte November 2012. Alexej Charaschow kehrte nach acht Monaten Arbeit in Minsk wieder zurück zu dem Ort, an dem sich sein Zuhause befand: Eine kleine Ansammlung einfacher Hütten westlich eines Eisenbahngleises, das den Süden Kamtschatkas mit dem übrigen Kontinent verband. Auf kaum einer Karte war diese Siedlung, deren Name nur trocken “Punkt 76” lautete, verzeichnet.

Als er seine schweren, erschöpften Schritte über den gefrorenen Boden in Richtung einer einfachen Hütte mit Wellblechdach lenkte, wurde ihm bewusst, dass unüblich viel Betrieb herrschte. Ein knappes Dutzend Leute schlich zwischen den Häusern umher, als warteten sie auf etwas. Dort standen drei alte Damen beieinander, die unter normalen Umständen fest eingemummt in ihren Hütten schon geschlafen hätten. Wortfetzen ihrer mit verhaltenen Stimmen geführten Tratscherei wehten zu ihm herüber:

“Fremder!”

“…Blutverlust…”

“…wie kann man nur …”

“…Dita…!”

Erst jetzt wurde Alexej bewusst, dass die Blicke der Frauen immer wieder verstolen zu einem Haus zurückwanderten. Zu seinem Haus. Hatte er nicht gerade den Namen seiner Frau gehört? Wenn Dita etwas passiert war … !

Alexej beschleunigte seine Schritte so gut es der pulverige Frost auf dem verhärteten Boden zuliess. Hastig stolperte er auf das Türchen in der Umzäunung seines Grundstücks zu. Die kalte Luft kratzte gegen seinen Rachen. Eiligst stiess er die kleine Holztüre auf und eilte weiter auf die hölzerne Doppeltüre der Hütte zu.

Als er den dämmerigen, einfachen Schlaf- und Wohnraum betrat, fand er seine Frau im Bett vor. Sie war blass, ihr Atem flach. Neben ihr stand ein alter, kleiner runzliger Mann, eingehüllt in fremd anmutende dünne Gewänder. Obwohl er Barfuss war, schien die Kälte ihn nicht weiter zu berühren.

Der alte Mann wandte sein von tiefen Furchen durchzogenes Gesicht wie beiläufig in Alexejs Richtung, wobei es aus dem Lichtkegel der müde flackernden Gaslampe austrat. Aus dem schwarzen Gesicht traten nur noch seine krumme, wie eine knochige Baumwurzel verdrehte und gewundene Nase und seine verächtlich hochgezogene Oberlippe hervor. Seine kalten, trüben Augen schienen Alexej keines Blickes würdigen zu wollen, als seine kratzende, flüsternde Stimme ihn adressierte:

“Das Kind ist gefährdet.” Wie zur Bestätigung zog er eine verkratzte, antik anmutende Spritze mit einer langen, dicken Nadel aus seinem Gewand hervor. Er zog die Spritze mit einer seltsam golden schimmernden Flüssigkeit aus einer kleinen Kanüle auf. Erst jetzt bemerkte Alexej das kleine Kind, das nackt und noch immer über die Nabelschnur mit seiner Mutter verbunden auf dem blutverschmierten Laken lag. Mit eiskaltem Blick stiess der Alte die Spritze in die Vene des Kindes. Ein Schrei entkam den Lungen des Säuglings, und noch bevor Alexej wusste, was geschehen war, verschwand der Alte in den Schatten. Alexej trat vor. Er zog sein Taschenmesser hervor und durchtrennte eiligst die Nabelschnur. Dann nahm er das Kind in seine Arme. Es hatte bereits aufgehört zu schreien. Mit grossen, wachen Augen blickte es zu seinem Vater empor. Es strahlte eine seltsame Zuversicht, beinahe Entschlossenheit aus. Vorsichtig legte er den Kleinen in die Arme seiner Mutter. Dita öffnete ihre Augen mit sichtlicher Anstrengung, ihr Blick fiel auf das Kind.

“Nikolej…”, hauchte sie, “Mein tapferer kleiner Nikolej.” Sie versuchte mit einer Hand den kahlen Kopf des Neugeborenen zu streicheln, doch es gelang ihr nicht. Mühsam kämpften ihre Augen mit der Erschöpfung, bis sie endlich ihren Mann ansah:

“Wo ist der Alte?” fragte sie mit brechender Stimme “Er war plötzlich da … er hat Nikolej gerettet …” Alexej legte eine Hand auf ihre Stirn als ihr Blick zu verschwimmen begann. “Wir werden uns wiedersehen … so Gott will … Nikolej … Alex–” Sie atmete aus.

Alexej nahm seinen Sohn aus ihrem Arm und drückte ihn an sich.

“Sie wollte, dass Du Nikolej heisst. Wie Deine Vorväter aus alter Zeit. Wie die, die den Tod fanden, über Jahrtausende hinweg. Ich muss ihren Wunsch respektieren, kleiner Mann. Ich hätte Dir ein besseres Leben gewünscht.” Er strich seinem Sohn über den Kopf und blickte in seine tiefen, Nussbraunen Augen “Was rede ich. Mein Leben war auch nicht besser.” Er blickte auf zur Decke, und sagte in versöhnlichem Ton: “Lass wenigstens Niko sein Glück. Bitte.”