von Uli Kusterer

Wie so oft, lag Nikolej um zwei Uhr nachts noch wach. Immer wieder schloss er die Augen, und immer wieder schlich sich das Gesicht dieser Frau in seinen Kopf. Er sah ihr freundliches Lächeln, vermeinte fast ihre klare Stimme zu hören, die für eine Frauenstimme angenehm tief war.

“Nein!” Er fuhr auf. Warum bekam er sie nicht mehr aus seinem Kopf? Er mochte sie nicht einmal besonders. Im Gegenteil; alles was sie bisher getan hatte, waren Dinge gewesen, die er als ungemein entnervend empfand! Wenn er etwas gesagt hatte, hatte sie es stets missverstanden; sie hatte eine egoistische Einstellung bis ins Letzte, und hatte offensichtlich nicht die geringste Bereitschaft gezeigt, auf andere Leute einzugehen. Alles Eigenschaften, die fundamental den seinen widersprachen.

Doch nicht genug damit: Laut den Akten, die er über sie bekommen hatte, lag es nahe, dass sie der Kopf einer Verbrecherbande, die weit über die Grenzen Heidelbergs hinaus, möglicherweise sogar weltweit operierte. Es wurde vermutet, dass ein gutes Dutzend Morde auf ihr Konto gingen. Auf das der Frau, nicht einfach nur ihrer Leute. Nicht zu vergessen, dass der Ursprung ihres Vermögens laut der Vermutungen der ermittelnden Beamten, in zahlreichen Schmuggelgeschäften zu suchen war, die von Zigarretten bis Heroin alles einschlossen, und wofür die Kanäle allem Anschein nach über Bestechung und Erpressung etabliert worden waren.

Und hier lag er, wie ein zwölfjähriger Schuljunge und erfreute sich an der Erinnerung ihres Duftes, fragte sich wie ihre Haut sich wohl anfühlen mochte. Hatte sie ihn etwa in ihrer Gewalt? Nein. Die Wissenschaftler hatten sich nicht geirrt, als sie gesagt hatten, dass er gegen ihre Suggestivkraft immun war. Das hatte er bereits begriffen, als sie versucht hatte, ihn wegzuschicken, und er fortgefahren war, ihr Fragen zu stellen. Selbstbewusst hatte sie ihn gebeten zu gehen, und sich dann seelenruhig wieder ihren Papieren zugewandt, nur um dann erschrocken aufzufahren, als sie ihn noch immer vor sich stehen fand.

Dieses Bild ihres Gesichts hatte er vor sich: ihre steinerne Maske der Selbstsicherheit für einen Moment gebrochen, Glut in den Wangen, die Anspannung in ihrem Hals. Ein erschrecktes Zittern in ihrer Unterlippe. Für einen Moment hatte er das getan, was noch keinem ihrer vertrautesten Mitarbeiter je vergönnt gewesen war: ihr wahres Selbst zu sehen. Und nochetwas hatte er in ihrem Gesicht gesehen: Angst. Eine seltsame, ihm neue Angst. Nicht Furcht vor dem Ertappt werden, das hatte er schon hunderte male in den Augen von Verbrechern gesehen, gegen die er ermittelt hatte, sondern etwas seltsam anderes. Und fast hatte er das Bedürfnis verspürt, sie zu trösten.

Was war nur mit ihm los? Er hatte doch schon unzählige male Verbrecher überführt, auch schöne Frauen hatte er zu dutzenden festgenommen, und hatte trotzdem nie einen Gedanken zuviel an sie verschwendet. Und diese Frau, die genug Macht hatte, ihn unauffällig verschwinden zu lassen, ohne dass der Hauch einer Spur zu ihr führte, hatte ihn berührt. Ihr Bild schien sich ohne Unterlass in seine Gedanken einzuschleichen. Er war nur Erinnerung; Duft, Klang, Form. Ihre leuchtend grünen Augen verfolgten ihn in die Nacht, und gleichzeitig empfand er Erlösung und litt Verdammnis.

Und als er am nächsten Morgen erwachte, war sie noch immer da.